Die ambivalente Macht der Phantasie – historische und aktuelle Debatten
Internationale Tagung, 10.–12. Juni 2026
Die Phantasie (griech. φαντασία; lat. phantasia, imaginatio) gilt in der philosophischen Tradition als ein ambivalentes Phänomen. Von Aristoteles wird sie in De anima zwischen der Erklärung der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit und der des Denkvermögens behandelt. Die φαντασία geht von der Sinneswahrnehmung aus, ist aber nicht an die gleichzeitige Wahrnehmung des Objektes gebunden. Sie kann Erinnerungsbilder vor Augen stellen oder – durch freie Kombination von Elementen der Wahrnehmung – Vorstellungsbilder erfinden. Auch wenn die Konzeption der Phantasie seit den antiken Diskussionen Transformationen unterliegt, bleibt ihre Stellung zwischen den Vermögen der Wahrnehmung und des Denkens in der Theoriegeschichte zentral – gerade ihr freierer Umgang mit den von der Wahrnehmung gelösten Vorstellungen zieht das Interesse auf sich.
Im 18. Jahrhundert kommt es zu einer Neubewertung der Leistung der „Einbildungskraft“. Immanuel Kant unterscheidet in der Kritik der reinen Vernunft epochemachend zwischen der „reproduktiven Einbildungskraft“, die auf empirisches Material angewiesen ist und empirisch-psychologischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, und der „produktiven“, die als ein Vermögen a priori gefasst wird (KrV B 152). Auch im epistemischen Bezugsrahmen Kants bleibt die Frage entscheidend, ob die Einbildungskraft zum „Vermögen“ der Sinnlichkeit oder zu dem des Verstandes gehört, oder ob sie ein „Drittes“ bildet, das vermittelt. Kants Aufwertung der produktiv-schöpferischen Einbildungskraft ist wirkungsmächtig. In seiner Anthropologie klingt aber auch eine Skepsis an, die sich seit Platon fortschreibt: „Wir spielen oft und gern mit der Einbildungskraft; aber die Einbildungskraft (als Phantasie) spielt eben so oft und bisweilen sehr ungelegen auch mit uns.“ (Akad.-Ausgabe 7, 175; vgl. ebd. 181).
Um diese Wende hin zu einer Konzeption von Einbildungskraft und Imagination, in der diese als Produktivkräfte neu entdeckt, zugleich aber auch problematisiert werden, soll es im Sommersemester 2026 in einer Ringvorlesung und in einer das Semester beschließenden internationalen Tagung gehen. Der Blick wird sich auf die historischen Entwicklungen richten, sich auf die europäischen Debatten der Sattelzeit – insbesondere im Raum Jena-Weimar – konzentrieren und zur Gegenwart hin öffnen. Leitend soll hierbei die Frage sein, welche aktuellen Problemfelder sich vor dem Hintergrund der Transformation von Phantasie und Einbildungskraft um 1800 erschließen lassen.
Systematisch zeichnen sich verschiedene Bereiche ab, in denen die Neuvermessung von Phantasie und Einbildungskraft ihre Wirkung entfaltet: Im Mittelpunkt unseres Interesses stehen neben der Erkenntnistheorie, der Ästhetik und den Künsten die psycho-sozialen Funktionen des neugefassten imaginativen Entwurfsvermögens. Denn bereits im 18. Jahrhundert lässt sich beobachten, dass Phantasie und Einbildungskraft eine große Bedeutung sowohl für die Erfahrung von autonomer Subjektivität als auch für das Verstehen anderer Menschen sowie das Möglichkeitsdenken überhaupt zuerkannt werden.
Anschlussfähig sind Auseinandersetzungen mit Phantasie und Einbildungskraft in ihrer Funktion als Selbst- und Fremd-Entwurfsvermögen nicht nur für die Psychoanalyse, sondern auch für gegenwärtige Theoriebildungen von Martha Nussbaum über Slavoj Žižek bis Andreas Reckwitz. Ringvorlesung und Tagung haben also zum Ziel, in präzisen historischen Analysen die Neufassungen der Einbildungskraft auszuleuchten und diese zugleich auf die Gegenwart zu beziehen – etwa um zu fragen, in welcher Form diese unter heutigen sozialen und medialen Bedingungen zum Gelingen und Scheitern von Identitätsbildung, Kommunikation oder Relationierung zur sozialen Umwelt beiträgt.
Selbst auf dem Höhepunkt ihrer Affirmation bleiben Phantasie und Einbildungskraft umstritten. Um 1800 findet sich neben dem Enthusiasmus der Romantik für die Leistungen der Imagination auch eine zugespitzte Reflexion der Gefahren ihrer Entfesselung, ihrer Ausschweifungen und Pathologien. Deren Diagnose wird zu einer der Aufgaben der Künste, die zeitgenössisch ins Zentrum der Erfassung von Welt und Transzendenz rücken. Die titelgebende „ambivalente Macht der Phantasie“ zeigt sich in konträren Einschätzungen ihrer Qualität: als ultimatives Erkenntnis- oder als Illusionsmittel, als Handlungsstimulans oder als träumerische Kompensation. Dieses Spannungsfeld soll auch für die Gegenwart diskutiert werden. Allgemein lässt sich fragen, wie Auffassungen von Einbildungskraft heute die Kunstproduktion und -rezeption steuern. Kann eine Bestimmung von Phantasie und Kreativität bei der Abgrenzung menschlicher Vermögen von KI helfen? Zu fragen wäre auch, welche Rolle die Phantasie unter den Bedingungen der Digitalisierung in der Pädagogik spielt. Treibt der jahrzehntelange Boom des Phantastischen in der Populärkultur die Phantasie zu neuer Blüte? Und: Welche Rolle spielt sie in der naturwissenschaftlichen Forschung?
Um diese und weitere Fragen zu diskutieren, sollen idealerweise Philologien und die Kunstgeschichte, Pädagogik und Psychologie, Wissenschaftsgeschichte und Medienwissenschaft, Philosophie und Theologie in Ringvorlesung und Tagung in ein Gespräch eintreten.